Stendaler Spielzeiteröffnung

Die letzte Spielzeit des auf eigenen Wunsch vorzeitig scheidenden Intendanten des Theaters der Altmark Goswin Moniac begann in Stendal am ersten Wochenende im September mit zwei Premieren. Zunächst mit Gotthold Ephraim Lessings Lustspiel MINNA VON BARNHELM ODER DAS SOLDATEN-GLÜCK im "Kleinen Haus" in der Inszenierung des Oberspielleiters Markus Dietzes, seinem designierten Nachfolger.
Während die Zuschauer die Spielstätte betreten, zeichnet eine Malerin in weißem Kittel mit Kreide an einer rund um den Raum herumführenden Tafel. Akkurat entsteht eine Serie aus Reitern in Uniform auf Pferden mit gezogenen Schwertern und Fußsoldaten, eine ganze Armee. Unter elegischen Klängen beginnen die Darsteller mit einer tänzerischen Pantomime, die Männer Ausbrüche von Gewalt im Stil einer Stuhlschlacht markierend, die Frauen Ausbrüche von Verzweiflung, beide offenbar die vermeintliche Ausweglosigkeit ihrer Situation symbolisierend.
Im Mittelpunkt der Bühne von Luzia Gossmann ist das Zimmer spärlich aufgebaut, in welchem die Barnhelm mit ihrer Zofe logiert. Ein quadratischer Kasten auf einem Podest mit bläulich - weißen Rückwänden, einer Tür, ein Sessel, einem Spiegel und einem Koffer. Tische und Stühle darum im Nichts der Bühne sollen ungefähr das Wirtshaus bedeuten. So erhalten die Darsteller keinen konkreten Spielraum, was die szenische Genauigkeit des Spiels mehr behindert als fördert. Auch die Kostüme der Ausstatterin wirken eher lieblos und beliebig als konkret und die Figuren beschreibend. Allein die Uniformen der Soldaten sind in einem Jeansstoff von atemberaubend scheußlichem Blau.
An diesem Abend sind vier Figuren gestrichen, die entbehrlichen des Grafen von Bruchsall, also Minnas Onkel und der Feldjäger. Aber auch die für die Handlung fast unverzichtbaren Figuren der Dame in Trauer und Riccaut de la Marliniere, dienen sie nicht nur der Charakterisierung und Kontrastierung der Hauptfiguren, bestimmen sie auch den dramaturgischen Aufbau mit. Ein großer Verlust für das Lustspiel.
Der Major von Tellheim des Kai-Peter Gläser ist ein schwer verbitterter Hagestolz, ein durch seine unverschuldete Notlage und gesellschaftliche Ächtung zutiefst verstörter, um seine Menschlichkeit und Gefühle reduzierter Mensch, ein humorloser Klotz, ein einarmige Ehrenmann nach dem sieben-jährigen Krieg und Opfer der deutschen Geschichte. Festgelegt auf zwei Töne zwischen Klagen und Brüllen, wie ein niederer Feldwebel bei Exerzieren auf einem preußischen Kasernenhof. Warum gerade er wegen seiner noblen Selbstlosigkeit und als stolzer Offizier mit übersteigerter Sensibilität von Minna geliebt wird, vermittelt sich kaum. Selbst als er sie ohrfeigt, soll sie diesen Mann noch kapern wollen. Auch sein Bedienter Just ist bei Martin Langenbeck ein grober Kerl, der sich krampfhaft an einer Laute festhält und ständig droht, darauf ein Liedchen zu spielen oder den Wirt damit zu verprügeln und beides - zum Glück - unterläßt.
Der Abend gehört der Titelfigur Minna von Barnhelm, besetzt mit der jungen Katharina Spiering. Ihr gelingt die anmutige Darstellung einer leidenden und leidenschaftlich kämpfenden Adligen mit weiblicher Rationalität, die wahrhaft und identifizierbar ist. Obwohl sie gemeinsam mit ihrer Zofe in der unbefriedigenden Lösung des Bühnenraums wie in einem Käfig auch dann noch pantomimisch präsent sein muß, wenn sie laut Lessing keinen Auftritt hat. Auch ihr schlichtes rosa Negligees als Kostüm, später darf sie wenigstens einen roten Samtmantel darüber werfen, behindert sie eher in ihrer Rollengestaltung.
Bei den Nebenrollen ist nicht allzuviel Glanz zu sehen. Der neugierige Berliner Wirt, gespielt von Reinhard Riecke, rettet sich in eine komische Putzmanie, die ihm den Raum des Wirtshauses zurückgibt, den die Dekoration nicht bietet. Marco Wohlwend spielt den gewesenen Wachtmeister Paul Werner zackig redlich und Amelie Franziska Leipprand zeigt eine sehr heutige Franziska zwischen zickig schmollend und falsch freundlich, aber leider nie echt.
Im zweiten Teil gelingt es den Hauptdarstellern und Dank des dramatischen Genies Lessings, mit der Krise der Gefühle der Verlobten den Abend zu steigern. Aber während Zweidrittel der Aufführung muß sich die Malerin an der Tafel tapfer durch die Szenen auf der Bühne als ein Fremdkörper zeichnen, bis zu Panzer und Kanonen. Die Regie hätte auf soviel Didaktik glatt verzichten können. So bleibt die Inszenierung unentschlossen in einer fernen, ungenauen, lustlosen Schwebe. Die Situationskomik des Spiels wird arg vernachlässigt und höchstens mit grobem Klamauk aufgefüllt. Die Figuren geraten nur zu einem blassen Kreideumriss ihrer theatralischen Möglichkeiten. Das Stendaler Publikum freute sich dennoch mit lebhaftem Beifall.
Mit Ideen lassen sich die besten Kunstwerke verderben. Regisseure allerorten wähnen sich unter dem Erfolgsdruck, originell sein zu müssen. Selten sind ihre Einfälle dabei klüger als die der Autoren der Stücke. Markus Dietzes Inszenierung litt unter solchen Ideen. "In einer Komödie wie dieser ist alles lediglich ein Missverständnis. Nichts als Klarheit ist nötig, um sämtliche Probleme zu lösen. Das ist die traurige Fehleinschätzung der Aufklärung, die nie überwunden wurde.", zitiert das Programmblatt die seltsame Ansicht Howard Barkers. Das Mißverständnis des Regisseurs lag in der Kritik des Aufklärers Lessings, statt seinem Stück zu vertrauen.
Tags darauf gab es im ausverkauften "Großen Haus" Anton Tschechows DER KIRSCHGARTEN. In der Regie von Valerij Persikov erblüht ein wunderbares Ensemblespiel psychologisch realistischer Art a la alte Schaubühne. Ein schmaler Durchgangsraum aus hellem Holz im Hause der Gutsbesitzerin mit fünf hohen Fenstern, weißen wehenden Gardinen und kleinem Treppchen ist der mit großer Sorgfalt geschaffene Spielort von Dirk Steffen Göpfert. Hinter den fünf großen Fenstern der berühmte Kirschgarten, welcher sich in jedem Akt und der Jahreszeit entsprechend verändert, mit Blüten am Anfang geschmückt und kahl im fahlen Licht am bitteren Ende. Auch die in überwiegend braun und schwarz - weißen Grundtönen gehaltenen Kostüme Göpferts ermöglichen eine konkrete Charakterisierung der Figuren. So ist das ganze Panoptikum Tschechowscher Figuren zu bewundern, in feine, heitere und zarte Ironie und dialektische Komik der Lebensbeobachtung getaucht.
Ingrid Birkholz spielt ihre Gutsbesitzerin Ljubow Ranjewskaja virtuos als hocheuphorische, kindlich verspielte, die drohend einbrechende Realität in Sekundenschnelle verdrängende Figur. Ihren Bruder Leonid Gajew zeigt Rainer Karsitz als einen leicht von Demenz geschädigten, für das Leben untauglichen, tragisch untergehenden, aber liebenswerten Menschen. Und der aufstrebende Kaufmann Lopachin im blütenweißen Anzug ist in der beeindruckenden Darstellung von Wolfram von Stauffenberg kein gefühlskaltes Ekel, mit dem die neue über die überlebte Zeit hinweg rollt. Sein Lopachin ersetzt zwar die verblühte Romantik des Grundstücks durch profitable Parzellen für künftige Besitzer von Datschen, rafft aber nicht erbarmungslos gierig seinen neuen Reichtum zusammen. Staufenberg führt einen die Chancen der Realität klar erkennenden und nutzenden, aber auch leicht verletzlichen Mann der Zukunft vor. Alexandra Hökenschnieder schafft als leicht verhärmte Adoptivtochter Warja Momente von anrührender Größe. Wenn sie nach aller vergeblicher Mühe um den Zusammenhalt von Gut und Kirschgarten, am Ende auf den ersehnten Heiratsantrag Lopachins hofft, auch diese letzte Hoffnung begraben muß und ihre bitteren Tränen still herunter schluckt. Auch alle anderen Darsteller, etwa Horst Langpap als alter Diener Firs wie ein um seinen Herrn besorgter Dinosaurier aus der Zeit der Leibeigenschaft, lösen ihre darstellerischen Aufgaben mit großem Einfühlungsvermögen und Präzision. Dieser klassisch inszenierte Kirschgarten besitzt eine verdichtete Atmosphäre hinter der "vierten Wand", lebt von einem intensiven, genauen Zusammenspiel aller Darsteller. Eine durchkomponierte, höchst subtile Inszenierung des russischen Regisseurs Valerij Persikov im Geist von Konstantin Stanislawski, die mit rhythmischem Beifall bedacht wurde. Gerade durch die doppelte Entfernung von Ort und Zeit, dem Rußland um die vorletzten Jahrhundertwende, dem vermeiden von platten Aktualismen jeder Art entsteht eine subtile Nähe zur Gegenwart.
Die erfolgreiche Strategie des Intendanten Moniac beim Erhalt des Theaters der Altmark beruhte auf der hohen Anzahl von zwanzig Premieren pro Spielzeit, also ständig Neues bieten und im Gespräch von Stadt und Landkreise bleiben. Mit den rund 3,5 Millionen Euro unter hundert produktive Mitarbeiter beschäftigend, die 500 Vorstellungen jährlich fahren, davon über die Hälfte außerhalb Stendals. Jetzt soll der Anteil der Stadt an der Finanzierung des Hauses, nach dem Willen der Stadtverordneten um rund fünfundzwanzig, nach dem des Bürgermeisters sogar um fünfzig Prozent abgesenkt werden. Was die parallele Reduzierung der Landeszuschüsse Sachsen-Anhalts zur Folge hat. Dadurch dürfte die Strategie Moniac torpediert sein, weil zuviel Mitarbeiter gehen müssten, um die hohe, beinahe vierzehntägige Premierenfrequenz weiterhin aufrecht zu erhalten.
Wenn die Besucher nach den Vorstellungen aus dem Theater der Altmark kommen, sehen sie auf der anderen Seite der Karlstraße ein höchst makabres Gegenüber. Der Anblick von zwei Häuser im Zustand von Ruinen und zwei Baulücken bereits abgerissener Häuser springt dem Betrachter unverhofft ins Auge. In der ansonsten weitgehend sanierten Stadt, welche aber auch schwer unter chronischem Leerstand durch abgewanderte Menschen leidet, die Realität der "blühenden Landschaften". Die Verantwortlichen Stendals sollten diese städtebauliche Schande auch im Interesse ihres Theaters beseitigen, da kaum vorstellbar ist, daß nach dem Genuß der Fiktionen dieser massive Einbruch der Realität als Katharsis beabsichtigt ist.


Carl Ceiss in: Theater der Zeit, 10/2003

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